Radsport: Auferstanden aus Ruinen
Nach vielen Tiefschlägen erlebt der Profi-Radsport in Deutschland eine Renaissance: Deutsche Fahrer feiern Erfolge ohne Dopingskandale und die ersten Unternehmen trauen sich wieder, den Sport als Werbeplattform zu nutzen. Nun berichtet sogar die ARD live von der Tour de France. Wie kam es zu dem Wandel?*
Etwas Besseres hätte Marcel Kittel für seinen Sport im Juli vergangenen Jahres kaum machen können: Ausgerechnet auf dem Prachtboulevard Champs-Élysée in Paris sprintet der Radprofi zum vierten Mal bei der letztjährigen Tour de France als Erster durchs Ziel. Mehr Medienaufmerksamkeit bekommt ein Radprofi selten. Hinzu kam, dass Kittel zusammen mit den vorherigen Erfolgen von André Greipel sowie Tony Martin den insgesamt siebten deutschen Sieg bei der 101. Tour einfuhr. So viel wie noch nie. Das konnte die hiesige Sportbranche eigentlich nicht kalt lassen und hat normalerweise Folgen.
Und trotzdem war es durchaus überraschend, als knapp zwei Monate nach Kittels Erfolg der Shampoo-Hersteller Alpecin den Einstieg als Hauptsponsor des Teams Giant-Alpecin verkündete. Fünf Jahre nach dem Rückzug von Milram gibt es wieder einen deutschen Rennstall mit der höchsten Lizenz. Dass fast zeitgleich Gerüchte auftauchten, die ARD werde nach langer Abstinenz wieder live von der Tour de France 2015 berichten und dies sogar Anfang diesen Jahres bestätigt wurde, übertraf wohl selbst die Hoffnungen der größten Optimisten. Zumal sich die ARD nicht davon abschrecken ließ, dass sie die Berichterstattung diesmal allein stemmen muss, weil das ZDF wegen der „angespannten Personal- und Finanzlage“ von einer Rückkehr absieht.
Düsseldorf und andere deutsche Städte wollen die Tour
Ins Bild von der Wiederauferstehung des Profi-Radsports in Deutschland passt auch die Meldung aus Mitte 2014, dass der Küchentechnikhersteller Bora aus Oberbayern als Hauptsponsor bei einem zweitklassigen Radrennstall eingestiegen war, das künftig Bora-Argon 18 heißt. Und mit Münster, Bad Homburg und St. Wendel haben im Vorfeld der diesjährigen Tour de France erstmals seit acht Jahren deutsche Städte Interesse an einer Etappe bekundet. Inzwischen kam noch Düsseldorf dazu.
Mit solch einer Entwicklung war kaum zu rechnen. Dafür war wegen der vielen Dopingskandale zu viel auf den Sport eingedroschen worden. Aufgeregte Berichte von der „Tour der Lügen“ liefen in den hiesigen Medien rauf und runter. Über Jahre. Sponsoren wie die Deutsche Telekom zogen sich zurück, als Letztes Milram im Jahr 2010.
Den finalen Sargnagel schienen die ARD und das ZDF schließlich im Frühjahr 2011 eingeschlagen zu haben: Die beiden Sender teilten damals mit, sich ab 2011 komplett aus der Live-Berichterstattung von der Tour de France zurückzuziehen. Die Begründung lautete: Die Rundfahrt finde aufgrund der Skandale nur noch „eine geringe Akzeptanz, die lange Live-Sendestrecken nicht mehr rechtfertige“. Das zeige sich auch an den Einschaltquoten, die in den vergangenen Jahren stark zurückgegangen seien: Von durchschnittlich 3,1 Millionen Zuschauer ab drei Jahren im Jahr 2003 auf 1,26 in 2010.
Nach der Tour 2011 konnten deutsche Zuschauer die Rundfahrt nur noch im Programm des Spartensenders Eurosport verfolgen, der die Rechte bis 2019 besitzt. Immerhin könnte man sagen. Tatsächlich schien mit dem Boykott der Öffentlich-Rechtlichen der Profi-Radsport ins Abseits gestellt, fernab der breiten Öffentlichkeit und nur noch interessant für unbeirrbare Radsport-Nerds.
Warum nun aber die Renaissance? Die sportlichen Erfolge allein wirken als Begründung nicht ausreichend.
Kampf gegen Doping glaubhaft
Viele Radsport nahe Beobachter betonen bei der Frage nach den Gründen für die Wiederauferstehung des Profi-Radsports, dass der Kampf des Radweltsportverbandes UCI gegen Doping mittlerweile sehr glaubwürdig wirkt. ARD-Sportkoordinator Axel Balkausky sagt, in puncto Anti-Doping-Kampf werde in jüngster Zeit sehr viel getan, „zum Teil sogar mehr als in manchen anderen Sportarten“. Hat sich das einstige Sorgenkind der Sportwelt also zum Musterknaben gebessert?
Kompetent beurteilen können, sollte das wohl ein Doping-Insider wie der ehemalige Radprofi Jörg Jaksche: „Ich bin beileibe kein Freund der UCI. Aber das, was die UCI hinsichtlich Anti-Doping macht, ist ein Vielfaches von dem, was in anderen Sportarten getan wird. Und andere Sportarten haben auch diese Probleme.“ Der ehemalige Radsport-Manager Hans-Michael Holczer äußert sich zurückhaltender: „Ich bin überzeugt, dass die neue Führung ihr Bestes tun wird. Sie werden es aber nicht wegkontrollieren können.“
Holczer hat es als Manager der Radprofiteams Gerolsteiner und Katusha selbst erlebt wie schwer der Kampf gegen Doping ist: „Mir wurde ins Gesicht gelogen. Ich habe es rückblickend nicht in den Griff bekommen.“
Jaksche will zwar sein Geld nicht darauf verwetten, dass die aktuellen Profis sauber sind. „Aber es ist eine andere Generation. Mir gefällt, wie sich John Degenkolb, Marcel Kittel und Co. in Interviews mit dem Thema Doping auseinandersetzen. Das wirkt sehr reflektiert.“
Ein großes Problem für den Anti-Doping-Kampf im Radsport besteht für Jaksche allerdings weiterhin: „Es sind noch die gleichen Funktionäre aktiv, die mich damals zum Doping gedrängt haben.“ Der nächste Dopingskandal könnte somit nur eine Frage der Zeit sein. Droht damit ein erneuter Ausstieg der ARD aus der Live-Berichterstattung?
Balkausky lässt diese Frage offen: „Wir werden die Entwicklungen im Gesamtverlauf der Tour beobachten. Sollte es zu einem Doping-Fall kommen, ist dies zunächst Mal ein Zeichen, dass das Kontrollsystem funktioniert und die getroffenen Maßnahmen greifen.“
Zuschauerpotenzial ist da
Dass inzwischen deutlich mehr gegen Doping unternommen wird, dürfte auf jeden Fall eine Voraussetzung sein, dass sich wieder mehr Zuschauer für den Profi-Radsport interessieren. Und damit auch die Wirtschaft und die Medien. Dass Potenzial da ist, zeigen nicht nur die beachtlichen Teilnehmerzahlen bei Jedermann-Rennen wie die Vattenfall Cyclassics in Hamburg oder das Skoda Velorace in Dresden. Stephan Schröder, Managing Director DACH bei Repucom, verweist auf eigene Online-Befragungen , wonach sich im November vergangenen Jahres 21 Prozent der Sportinteressierten für Radsport interessierten. Seine Beobachtung: „Trotz der ausgebliebenen TV-Berichterstattung durch die öffentlich-rechtlichen Sender ist das Interesse am Radsport in Deutschland in den vergangenen beiden Jahren leicht gestiegen.“
Auch die Einschaltquoten bei den Radsportübertragungen auf Eurosport stützen den positiven Eindruck. Laut Werner Starz, Director Product Development von Eurosport, sei der Sender mit den Reichweiten beim Radsport „überaus zufrieden“. Beim diesjährigen Giro d’Italia zum Beispiel erzielte der Spartensender hierzulande in der Spitze bis zu sechs Prozent Marktanteil bei Zuschauern ab 14 Jahren. Im Schnitt waren es bei den Zuschauern ab drei Jahren 171 000 und 1,6 Prozent Marktanteil. Die Quoten bei der Tour de France seien Starz zufolge ebenso „relevante Werte für unsere Werbekunden. Auch im Vergleich zu anderen Sportarten“.
Viele Anfragen von Werbekunden
Werbekunden sind auch für die gebührenfinanzierte ARDinteressant: Schon bei den ersten Gerüchten, dass das „Erste“ wieder live von der Tour de France berichtet, sollen erste Anfragen aus der Wirtschaft gekommen sein. Einzelne Reaktionen sollen ähnlich euphorisch gewesen sein wie einst bei der Rückkehr der Bundesliga-„Sportschau“ in die ARD – wenn auch monetär auf einem geringerem Level. Aufgrund des großen Interesses aus der Wirtschaft soll sich der TV-Vermarkter des Senders, die ARD-Werbung Sales & Services, entschlossen haben, zwei Presenter-Pakete anzubieten und nicht wie ursprünglich geplant nur eines. Beide Pakete wurden bereits Monate vor der Tour verkauft, an Bora und Tour-Sponsor Škoda.
Dass die Reaktionen aus der Wirtschaft so positiv ausfiel, hängt vielleicht auch mit dem sonst eher überschaubaren Angebot an attraktiven Sommersportübertragungen im diesjährigen Sommer zusammen: Neben der Tour de France zeigt „das Erste“ im Juli die Deutsche Meisterschaft im Schwimmen, die DTM und ein Halbfinale sowie das Spiel um Platz drei der Frauenfußball-WM. Mit den eineinhalb-stündigen, täglichen Live-Berichten von der Frankreich-Rundfahrt hat die ARD ein deutlich besseres Angebot für die sogenannte werberelevante Zielgruppe der 14- bis 49-Jährigen.
Dass der Profi-Radsport als Werbeumfeld für Unternehmen an Attraktivität gewonnen hat, zeigen insbesondere die Beispiele Bora und Alpecin, die unisono von einem attraktiven Return-on-invest schwärmen – etwa aufgrund der internationalen Berichterstattung und des vergleichsweise günstigen Preis-Leistungsverhältnisses.
Klar ist aber auch: Der Profi-Radsport steht in Deutschland erst am Beginn seiner Wiederauferstehung. So glauben Radsport-Experten wie Hans-Michael Holczer, dass große Unternehmen derzeit „eher nicht einsteigen werden“. Dafür seien die Vorbehalte noch zu groß.
Das mag vereinzelt stimmen, bei der Deutschen Telekom etwa. Der Autobauer Skoda oder die Dr. Wolff-Gruppe mit ihrer Marke Alpecin könnten anderen größeren Firmen aber als Beispiel und Vorbild dienen. Allerdings wohl nur, wenn die neue deutsche Fahrer-Generation um Kittel, Greipel und Degenkolb sportlich für positive Schlagzeilen sorgt und frei von Dopingskandalen bleibt.
Lese-Tipp: In den Interviews mit dem ehemaligen Rad-Profi Jörg Jaksche, dem ehemaligen Teammanagers Hans-Michael Holczer und dem Director Product Development von Eurosport, Werner Starz, sind noch weitergehende Aussagen zum Thema zu finden.
(Bildquellen: F. Gopp / pixelio.de (Foto v. d. Startseite); Hans-Peter Reichartz / pixelio.de)
* Diesen Artikel habe ich für die Juli-Ausgabe des Fachmagazins SPONSORs geschrieben, wo er in leicht modifizierter Form erschien.
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